Shu-Ha-Ri(-Ku)

Über die Entwicklung des Schülers in den Kampfkünsten gibt es verschiedene philosophische Denkansätze. Eine davon stellt die Basis aller Kampfkünste in Japan dar. Seine einzelnen Stufen werden mit Shu, Ha und Ri bezeichnet. Ihr Prinzip wird allerdings bei weitem nicht nur auf die Kampfkünste, sondern als universeller Denkansatz gebraucht.

Shu  (befolgen)

Shu ist die Grundstufe. Jeder Schüler beginnt mit ihr. Noch hat der Schüler kein tieferes Verständnis für die Technik. Er sieht nur die Bewegung und ahmt sie nach. Er bringt für den Unterricht seines Lehrers das selbe Urvertrauen auf, dass auch ein Kind seinen Eltern gegenüber hat. Auch ein Kind hat Anfangs kein tieferes Verständnis für das, was es tut. Es sieht all das was seine Eltern tun und versucht dies so gut es ihm möglich ist nachzuahmen. Dieses Nachahmen der Eltern wird nach und nach perfektioniert bis schließlich die Fertigkeiten soweit entwickelt sind, mit den Eltern auf einer Stufe zu stehen.

Auf dieser ersten Stufe liegt die Konzentration des Schülers hauptsächlich auf den einzelnen Techniken, dem richtigen Stand, der Kontrolle der Atmung. Man versucht streng alles genau nachzuahmen, auch wenn es nicht leicht fällt. Ein wichtiger Begleiter ist dabei die Disziplin. Alle Bewegungen und Abläufe sind dem Körper noch fremd und ungewohnt, sie müssen durch regelmäßiges und ausreichendes Training dem Körper vertraut gemacht werden. Sie werden so oft trainiert bis sich für jede davon ein natürliches Gefühl der Bewegung, des Schritts und der Technik als ganzes entwickelt hat. Dabei ist der Schüler auf die Hilfe seines Sensei angewiesen um die immer kleiner werdenden Fehler die noch in seinen Bewegungen und Techniken vorhanden sind zu beseitigen. Und auch die Disziplin, immer wieder alles aufs neue zu üben, auch wenn man noch so große Schwierigkeiten hat.

 

 

Als ein Symbol für diese Stufe dient das Ei, in dem ein Vogel heranwächst. Noch ist er nicht lebensfähig (seine Techniken sind noch nicht richtig). Er braucht noch die Ei-Schale als schützendes Element (den Sensei, der ihn unterweist).

Ha  (zerreißen)

Ha ist die zweite Stufe. Verglichen mit der Entwicklung eines Kindes sind jetzt die Fertigkeiten der Eltern erreicht. Man versucht nicht mehr, etwas so zu tun, wie es bei den Eltern aussieht, sondern auch mit dem gleichen Ziel und Ergebnis. Das Kind weiß nun auch um die Gründe jeder Handlung. Aber immer noch folgt das Kind den Weisungen seiner Eltern. Es wird die Hände waschen, die Zähne putzen usw. weil es die Eltern von Ihm verlangen. Sein Wille ist noch nicht frei, aber es versteht (jedenfalls prinzipiell) was der Grund für die jeweilige Handlung ist. Trotzdem hat das Kind einen eigenen Kopf und wird stets alle Handlungen nach einen ihm verständlichen Grund hinterfragen.

Für die Kampfkunst bedeutet es, dass die Grundzüge nun erlernt sind. Der Körper hat ein Gefühl dafür bekommen, wie eine Technik  richtig ausgeführt wird. Der Schüler muss nicht mehr über jede Bewegung nachdenken. Der Körper selbst und die Reflexe übernehmen wichtige Teile der Ausführung und Bewegung. Dadurch kann sich der Schüler während der Ausführung mit der Situation und der Anwendung auseinander setzten. Trotzdem lernt er immer noch von seinem Lehrer. Dieser gibt ihm Richtungen vor, Überlegungen auf den Weg und ist ihm ein Wegweiser für sein weiteres Training. Dadurch gleicht er sich immer mehr im Denken und Handeln seinem Meister an.

Neben der äußeren Lehre (Omote = vordergründige Seite) oder auch dem erlernten eines Soto-Deshi (äußeren Schülers, der nicht in den geheimen Lehren unterwiesen ist), welches beides der Shu-Stufe entspricht wird auch die innere Lehre (Okuden = geheime Lehre) vom Schüler, dem jetzigen Uchi-Deshi (innerer Schüler)  aufgenommen. Der Schüler ist nun selbst ein Meister und kann von seinem Lehrer nichts mehr lernen.

 

 

Das Symbol für diese Stufe ist das Vogel-Küken, das aus dem Ei schlüpft, die Schale ist zu eng geworden (der Schüler hat alles nötige für die zweite Stufe - Ha - erlernt und will mehr lernen). Auch benötigt er den Schutz der Schale nicht mehr (sein Lehrer muss nicht mehr Fehler korrigieren). Trotzdem wird der Vogel noch bei seiner Mutter bleiben bis er selbständig leben kann (der Sensei gibt Anregungen, er hilft dem Schüler immer tiefer in die Geheimnisse der Kampfkunst vorzudringen und gibt die Richtung für die Weiterentwicklung seines Schülers vor).

Viele Schüler verbleiben aber auf der Stufe Shu ohne je die Ha-Stufe zu erreichen. Nur wenige wechseln in Bescheidenheit still und unbemerkt diese Stufe.

Ri  (entfernen)

Ri ist die letzte Stufe. Das Kind ist kein Kind mehr. Es hat einen eigenen Willen und eine eigene Meinung entwickelt. Als Erwachsener tut es das was es will und wann es etwas tun will. Trotzdem hat sich sein Charakter während er Erziehung bei seinen Eltern entwickelt. Und egal was auch immer folgt, diese Zeit hat immer Einfluss auf jede Entscheidung, und sei sie noch so minimal.

In den Kampfkünsten hat der Schüler nun alles erlernt, was sein Meister ihm beibringen kann. Er weiß um die Geheimnisse der Kunst und entwickelt sich eigenständig weiter. Auf seiner Suche nach der Verbesserung seiner Technik entwickelt er Neues und trennt sich von Altem, das für Ihn keinen Nutzen hat. Er greift alte, andere  und neue Ideen und Konzepte auf und versucht sie zu verstehen und umzusetzen, oder er verwirft sie, wenn sie sich als nicht brauchbar erweisen. Aber immer noch ist die Basis das Erlernte aus der Zeit vor erreichen dieser Stufe.

Damit gehen Dankbarkeit und Demut seinen bisherigen Lehrern einher, die ihn bis zu diesem Punkt geführt haben. Aber es reicht nun nicht mehr, so zu sein wie sein Meister. Zwangsläufig entwickelt sich der Kampfkunsttreibende in eine eigenständige Richtung. Denn das ist Do, der Weg. Man geht ihn lange zeit gemeinsam mit anderen, irgendwann ist nur noch der Sensei da, dessen weg auch der eigene ist. Doch Wege gibt es viele und manche trennen sich und manche treffen sich. Genauso wie sich an diesem Punkt die Wege von Meister und Schüler trennen. Aber auch wenn beide auf verschiedenen Wegen gehen, werden sie doch Wege suchen, die sich nahe sind. Zu lange ist man den selben Weg gegenen, man wird nun kaum eine ganz andere Richtung einschlagen. So werden sich auch die Wege von Meister und Schüler immer wieder begegnen. Denn allen Wegen ist eines gemeinsam: Sie dienen dem erreichen eines Ziels. Und das Ziel von Meister und Schüler ist letztlich identisch, nur die Wege verschieden.

Mit erreichen dieser Stufe ist die kampfkunstbezogene Vollkommenheit erreicht. Diese Stufe ist die wahre Meisterschaft, wie sie nur wenige erreichen.

 

 

Sie wird Symbolisiert durch den Vogel der aus dem Nest davonfliegt (er lässt alles hinter sich und sucht nach Neuem).

Ku  (Nicht-Sein, Leere)

Gelegentlich wird noch eine weitere Stufe mit der Bezeichnung Ku genannt. Sie beschreibt den Meister, der ein Stufe erreicht hat, auf der keiner seine Bewegungen nachvollziehen oder seine Techniken begreifen kann.