Karate und Heilkunst

Die Lehre von den Vitalpunkten

Einer der Männer, die die Ergebnisse ihrer Studien über die Vitalpunkte des menschlichen Körpers gewissenhaft aufzeichnete, war der Daoist Zhang Sanfeng (geboren 1270). Er war zugleich ein Experte der Kampfkünste wie auch ein renommierter Akupunkteur seiner Zeit. Durch seine Faszination von den Kampfkünsten und angeregt durch die harten Shaolin Stile, dachte Zhang daran, eine "ultimative" Form der Selbstverteidigung zu schaffen. Dabei sollte es durch Einwirken auf die Schwachstellen des menschlichen Körpers möglich sein, durch Aufbringen von nur geringer Kraft, einen Gegner zu überwinden. Um diesem Ziel näherzukommen, unternahm Zhang zahlreiche Reisen und experimentierte ausgedehnt sowohl mit Menschen als auch mit Tieren.

Während seiner Studien entdeckte Zhang, dass Schläge auf bestimmte Punkte dazu führen, dass andere Körperstellen deutlich verletzlicher und empfindlicher gegenüber einem auch schwächer geführten Angriff werden. Somit konnte davon ausgegangen werden, dass die Traumatisierung eines Körperpunktes auf bestimmte andere Stellen einen kritischen Einfluss nehmen kann.

In Anlehnung an die Bronze-Statuen der Song-Dynastie erstellt Zhang seine eigene Form einer Vital-Punkt-Puppe. Dieses Wachs-Modell wurde mit Quecksilber gefüllt, so dass die korrekte Punktion eines Vitalpunktes zum Austritt der Flüssigkeit aus dem Punkt-Loch führte.

Der Legende nach hat Zhang Serien von Übungen entwickelt, die auf seinem Wissen um die harten Shaolin-Stile und die weichen daoistischen Gong-Fu-Stile beruhten. Durch diese Übungsfolgen sollte es möglich werden, dass die Prinzipien seiner Vitalpunkt-Lehre verbreitet werden könnten. Die konkreten Anwendungen der Übungen für den konkreten Kampf blieben oft durch die Abstraktion der Übungsfolgen unklar. Nur seinen getreuesten und verlässlichsten Schülern eröffnete Zhang diese Inhalte. 

Hier ist die Nähe der heutigen Kata-Praxis zum Greifen nahe. Die Interpretation eines Kata-Bunkai im Sinne einer kämpferischen Anwendung ist zwar in bestimmten Fällen dem aufmerksamen Schüler deutlich, die tieferen Inhalte bleiben aber gewöhnlich unbekannt. Interessanterweise geben sich die meisten Schüler damit zufrieden, dass man sie glauben macht, diese Inhalte in der Tiefe gäbe es gar nicht.

Die verbotenen Vitalpunkte

In der Mitte der Ming-Dynastie nach Generationen von empirischen Analysen und einem sehr tiefreichenden Verständnis der verbotenen Vitalpunkte entwickelten Akupunkteure ihre eigene bemerkenswerte und sehr effektive Form der Selbstverteidigung, die für Ärzte und deren Schüler gedacht war. Einige von ihnen hatten die Gewohnheit, Nähnadeln bei sich zu tragen, so dass sie im Falle eines Angriffs die Vitalpunkte ihres Gegners mit diesen Instrumenten angehen konnten. Auch andere waffenähnliche Gegenstände wurden benutzt. Aber nur zum Teil waren diese mitgeführten Instrumente geeignet für das fortwährende Mitsichführen und somit gab es nur wenige Kampfkünstler, die hiermit großes Können entwickelten.

In der Ming-Dynastie entwickelte Feng Yiyuan eine Methode, um die verbotenen Vitalpunkte zu attackieren nur durch den Gebrauch der bloßen Hände. Wahrscheinlich beruhen die Informationen über die Angriffe der Vitalpunkte, die im Bubishi gegeben werden, auf diesen Erkenntnissen von Feng. Ähnlich wie zuvor Zhang fand auch Feng heraus, dass man an bestimmten Punkten eine maximale Trefferwirkung erzielen kann, wenn sie gepresst, gequetscht oder in anderer Weise traumatisiert werden. Auch ein Zusammenhang zwischen dem Treffen eines Vitalpunktes und dem Zeitraum, in dem dies geschieht, auf die Trefferwirkung konnte gefunden werden. Feng arbeitet 36 Haupt-Kombinationen von Vital-Punkt-Treffer-Strategien heraus. Offenbar soll es sich dabei um 9 tödliche, 9 neurologisch schädigende, 9 Schmerzpunkt-Kombinationen und 9 paralysierende Punkte gehandelt haben. Über die Zeit hinweg kam es dann zu mannigfachen Fehlinterpretationen dieser Zusammenhänge und die Übungen, die Feng entwickelt hatte, gingen mehr und mehr verloren, weil sie nur von Daoisten in der Abgeschiedenheit der Berge weitergeführt wurden.

Behandlung von Verletzungen

Wer mit einem realen Gegner kämpft, der wird diesen Kampf unter welchen Umständen auch immer, nicht ohne eigene Blessuren überstehen. Auch ein Sieger erhält meist Verletzungen. Wie aber dann damit umgehen? Zu früheren Zeiten war es nicht möglich eben mal auf Krankenschein zu jeder beliebigen Tag- und Nachtzeit in das nächstgelegene Krankenhaus zu fahren, um untersucht, ärztlich versorgt und entsprechend gesund gepflegt zu werden. Man war auf sich allein gestellt. Der Kämpfer musste auch Vorstellungen von Heilmöglichkeiten und -prozessen haben. Dazu wurde an Stätten wie Shaolin Kampfkunst nur gemeinsam mit Heilkunst gelehrt und weitergegeben. Der Umgang mit Verletzungen gehört fraglos zu den essentiellen Dingen einer Kampfkunst. Schließlich treten Verletzungen oft genug auf, beim Wettkampf und beim täglichen Üben. Auch im ganz normalen Alltagsleben werden Menschen verletzt, bei der Arbeit etwa oder anderen gewöhnlichen Verrichtungen.

In früheren Zeiten war ein Arzt nicht so einfach zu finden wie heutzutage. In der Ming-Dynastie (1368 - 1628 n. Chr.) wurde der Umgang und die Behandlung gebrochener Knochen im Rahmen des offiziellen Kampfkunst-Trainings mit gelehrt. Weil die Behandlung von Verletzungen notwendigerweise ein Aspekt des Trainings in chinesischen Kampfkunstschulen war, wurde es als eine Verpflichtung für einen Kampfkünstler angesehen, sein Wissen zu nutzen, um Menschen zu helfen und als Heilkünstler tätig zu sein wo immer möglich. Einige Kampfkünstler nützten diese Fähigkeiten, um sich eine zusätzliche Einkunftsmöglichkeit zu schaffen, vor allem dann, wenn sie älter wurden oder aus anderen Gründen das körperliche Training für sie nachrangiger wurde.

Als Kampfkünstler muss man wissen, wie man mit den eigenen Verletzungen umzugehen hat. Zusätzlich ergibt sich von einem moralischen Standpunkt aus die Verpflichtung, zu wissen wie man einem Gegner helfen kann, nicht nur, wie man ihn verletzen kann.

Auch in frühen Zeiten galt der Einsatz von Gewalt grundsätzlich nur dann als erlaubt, wenn es um echte Selbstverteidigung ging. Hat man einmal einen Gegner überwunden und besiegt, gilt es, alles zu unternehmen, um ihm zu helfen. Der Kampf ist eine notwendige Lösung nur dann, wenn keine andere Möglichkeit besteht. Auch wenn es gut ist, deutlich zu gewinnen, so sollte dies möglichst ohne ernsthafte Verletzung des Gegners vonstatten gehen.

Aufgrund der Tatsache, dass öffentliche Gesundheitshilfe in unseren Tagen im Vergleich zu frühen Zeiten so einfach zu bekommen ist, hat dies dazu geführt, dass die Art des Trainings, die diese gesundheitlichen Aspekte mit einbezieht, mehr und mehr vernachlässigt wird. Auch hat die Möglichkeit der wirkungsvollen medizinischen Versorgung vielleicht dazu geführt, dass die Absicht zu verletzen sich stärker im Bewusstsein der Kämpfer hält als die Fähigkeit zu vergeben. Selbst bei Meisterschaften von niedrigem Niveau ist ja schließlich immer ein "Wettkampf-Arzt" anwesend und der wird im Bedarfsfall schon alles richten. Den Kämpfer, der verletzt, muss dies alles überhaupt nichts angehen, schlimmstenfalls droht ihm eine Disqualifikation.

Dennoch, es bleibt dabei: ein guter Kampfkünstler sollte sich darum bemühen, medizinische Kenntnisse, etwa über die Notfall-Behandlung und vor allem Grundkenntnisse über die Prävention von Verletzungen anzueignen. Bemüht er sich nicht darum, so entgeht ihm auch eine Möglichkeit zu helfen, wenn einmal kein Arzt oder Krankenhaus in der Nähe und erreichbar ist. Darüber hinaus ist in manchen Fällen eine unmittelbare Hilfe erforderlich, um zu verhindern, dass ein Verletzung ein bedrohliches Ausmaß annimmt oder sogar vital gefährdend wird. 

Die althergebrachte Verbindung von Kampfkunst und Heilkunde war im Hinblick auf die Budo-Künste im wesentlichen eine Verbindung mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM). In den letzten Jahren ist eine Entwicklung in Gang geraten, dass zunehmend mehr westliche Budo-Lehrer sich Kenntnisse aus dem Bereich der TCM aneignen. In kleinen Schritten ist also zum Teil eine Wiederaufnahme der scheinbar verlorengegangenen Verbindung zu beobachten. Dabei ist die Herangehensweise der TCM derjenigen der westlichen Schulmedizin grundlegend verschieden. Es scheint aber sinnvoll, die Synergieeffekte beider Ansätze zu verbinden. Auch zahlreiche westliche Ärzte bemühen sich bereits darum.